Millerntor meine Gelegenheitsbraut…
…wat machst Du nur für Sachen?
Wenn man in einem Stahlrohr-gepimpten Erdwallstadion den Weg von der Bundesliga in die Regionalliga und zurück geht, sollte einen eigentlich so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Aber bei dem Gedanken, dass der FC St.Pauli (mit freundlicher Unterstützung der Stadt Hamburg) vor 3 Jahren 13,5 Millionen Euro für den Neubau der Südtribüne hingelegt hat und dieses Jahr nocheinmal knapp 20 Millionen Euro mobilisiert, um eine neue Haupttribüne sammt Kindertagesstätte zu realisieren, setzt doch manchmal mein Atem aus. Ein Fehlbetrag in der Größenordnung eines geringen Bruchteils dieser Stadionumbauunsummen hat den Verein vor wenigen Jahren beinahe in die Insolvenz getrieben.
Nachdem 2008 die Südtribüne mit allem was ein Fussballverein zum überleben braucht (Rasenheizung, eine feste Bleibe für die Geschäftsstelle und großzügige Räumlichkeiten für die sportlich Aktiven…) fertiggestellt wurde, geht es jetzt ans Eingemachte:
Mit der neuen Haupttribüne entsteht das Herzstück des neuen Millerntor-Stadions – jedenfalls aus ökonomischer Sicht. Bis zur neuen Saison wird ein gigantischer Kuchenblock in Beton gegossen, der dem Verein neue zahlungskräftige Kundenschichten erschliessen soll – und das gemessen an der angepeilten Stadiongröße (Fassungsvermögen von ca.27.500 nach Neubau der 4 Tribünen) in einem beachtlichen Umfang.
Zu den 11 Logen und etwa 1.000 Business Seats der Südtribüne gesellen sich mit der neuen Haupttribüne weitere 28 Logen und ca. 1.500 Business Seats. Die Logen befinden sich in den obersten beiden Etagen unter dem Dach, dass im Gegensatz zum Dach der Süd keine Stützen benötigt. Darunter werden die Buisiness Seats mittig über 23 Sitzreihen bis ans Spielfeld reichen. Diese werden an beiden Seiten von insgesammt 2600 „Normalo-Sitzplätzen“ flankiert, vor denen entlang der Seitenlinie die Plätze der Rollstuhlfahrer liegen.
Die Maße der Tribüne am Spielfeldrand sind durchaus erfreulich, denn vom Spielfeld aus betrachtet ergibt sich eine nur 122cm hohe Betonwand auf der ein 40cm hoher Handlauf aus Metall gesetzt wird. Das gilt sowohl für die Sitzplätze in der ersten Reihe, bei der sich die Füße 72 cm über Bodenniveau befinden. als auch für die Rollstuhlfahrerplätze, bei dem die Räder des Rollstuhls 20cm über Bodenniveau beginnen.
Auch wird es wie bei der Südtribüne wieder eine Backsteinfassade geben, allerdings nur an den Seiten der Tribüne. Die durch das Schulgebäude ohnehin nur schwer einsehbare Rückseite der Tribüne bekommt eine Putzfassade.
Und es wird eng hinter der Haupttribüne. Die Rückseite der Tribüne steht nach Fertigstellung im Süden genau auf der Grenze zum Schulgelände, verläuft „schräg“, und hat schliesslich im Norden etwa 3m Abstand zum Schulgrundstück.
Wie schon die alte Haupttribüne wird auch die neue Haupttribüne einzig über den Eingang Budapester Straße an der Ecke zur Südtribüne erschlossen werden. Und ausgerechnet an dieser prominenten Stelle tut sich etwas für Fussballstadion äusserst ungewöhnliches: Im Entrée für unser zahlungskräftiges Publikum entsteht in Zusammenarbeit mit der Hamburger Pestalozzi-Stiftung eine Kindertagesstätte.
Dabei kann vorhandene Treppenaufgang für die Südtribüne erhalten bleiben, da die Kita auf „Stelzen“ steht und etwa in Höhe der 3. Ebene der beiden angrenzenden Tribünen beginnt. Für die Haupttribüne entstehen an der Südseite unter der Kita ebenerdig zwei große Eingangstore: Über das größere Eingangstor wird ein Treppenhaussystem an der Südseite der Haupttribüne erschlossen. Es verteilt die Besucherströme auf die verschiedenen Tribünenebenen. Daneben, etwas weiter außen, entsteht der VIP-Eingang. Er führt über einen arkadenartigen Gang entlang der Längsseite der Haupttribüne zu einem etwa auf Höhe der Mittellinie gelegenen Treppenhaus.
Die Kita bekommt eine über 3 Ebenen pyramidenartig gestaffelte Putzfassade, während für das zugehörige Treppenhaus inklusive Aufzug direkt neben dem Clubheim der Südtribüne die typischen Backsteine verbaut werden.
Die Vorteile dieser Eckbebauung liegen auf der Hand:
Der FC St.Pauli ist Eigentümer des Gebäudes und generiert über einen langfristigen Pachtvertrag mit der Pestalozzi-Stiftung Einnahmen. Außerdem ergeben sich interessante Optionen für eine etwaige Nutzung der Ecke an Spieltagen, Stichwort: Kinderbetreuung und Familienblock. Obwohl im innerstädtischen Bereich Baugrundstücke für eine Kita praktisch nicht vorhanden sind, kann die Pestalozzi-Stiftung auf diese Weise ihre Pläne für eine Kita mit hohem Anteil an den begehrten Krippenplätzen (Betreuung für 0-3 -Jährige) umsetzen – nicht zuletzt auch zum Vorteil für das Wohnviertel St. Pauli selbst.
Obwohl ich mich immer noch ungläubig wundere, dass das gerade Geschriebene in ein paar Monaten tatsächlich die neue Wirklichkeit am Millerntor sein könnte, möchte ich einen für mich fast schon surrealen Blick in die Zukunft wagen:
Im nächsten Schritt soll eine neue Gegengerade mit über 10.000 Stehplätzen und ca. 1.600 Sitzplätze entstehen, bevor dann die gute alte Bunkerkurve „rekonstruiert“ wird. Im Norden sollen 2.675 Sitzplätze für Heimfans neben einem Gästeblock mit 1.950 Stehplätzen und 636 Sitzplätzen entsehen. So lautete zumindest die letzte offizielle Wasserstandsmeldung zu den Planungen. Damit würden eines wundersamen Tages 12.000 Sitzplätze und 15.000 Stehplätze zu einem Stadion verschmelzen. Auch wenn eine Bebauung weiterer Ecken zwischen den Tribünen nach letzten Bekundungen nicht geplant ist, sollen die Flutlichtmasten den Umbauarbeiten geopfert werden.
Die neuen Tribünen werden nicht nur Zuschauer aufnehmen sondern auch unterschiedliche Funktionsräume beherbergen. Auf dem Dach der Kita (das entspricht dem obersten Stockwerk des neuen Baukörpers im Innenbereich des Stadions) entstehen bis zum Spätsommer 2010 Räume für Polizei, Feuerwehr, Stadionsprecher und Videoregie. Die Haupttribüne wird den Medienbereich beherbergen, nicht aber die Hauptkamera für das TV. Diese wird auch nach Fertigstellung aller vier Tribünen weiterhin auf der Gegengeraden verbleiben. Die Domwache auf dem Heiligengeistfeld wird in die neue Gegengerade ziehen. An Spieltagen befinden sich in dem Bereich an der Ecke zur Nordtribüne auch die Stadionwache und Sanitäter. Spiegelbildlich im gegenüberliegenden Bereich der Gegengeraden an der Ecke zur Südtribüne sollen Fanräume entstehen. Die Fußballabteilung verfolgt die Idee in der neuen Nordtribüne Unkleideräume und sanitäre Anlagen für die davorliegenden Kunstrasenplätze einzurichten.
Auch wenn sich der Stadionumbau schrittweise Tribüne für Tribüne gemächlich vollzieht, geht mir das immer noch zu schnell und ich muss mich so manches mal noch kneifen, um zu überprüfen ob ich nicht unter Realitätsverlust leide.
Übersteiger 98 / Februar 2010